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Die Initiative in Kürze

Nach heutiger Rechtslage können einzelne Privatpersonen nur kantonale Notverordnungen direkt vor Gericht anfechten. Bei nationalen Notverordnungen ist dies nicht möglich, womit stets ein konkreter Einzelfall abgewartet werden muss, um die Rechtmässigkeit bundesrätlichen Notrechts gerichtlich klären zu lassen – wobei auch dann mühsam über mehrere Instanzen prozessiert werden muss. Daraus folgt, dass Grundsatzurteile häufig erst mit zwei Jahren Verspätung ergehen – also dann, wenn allfällige Schäden des Öfteren bereits eingetreten sind! Und weil Notrecht sofort in Kraft tritt und nicht dem Referendum untersteht, kann auch nicht auf die StimmbürgerInnen verwiesen werden, welche sich politisch zur Wehr setzen könnten. Vielmehr sind es in Notrechtszeiten primär die Gerichte, die einen Machtmissbrauch der Regierung wirksam stoppen können. Und genau hier setzt nun die Notrechtsinitiative an: Sie verlangt, dass nationale Notverordnungen und Notverfügungen mit Beschwerde unmittelbar vor Bundesgericht angefochten werden können, wobei das Bundesgericht in aller Regel innert drei Monaten zu entscheiden hat. Eine Standesinitiative aus dem grössten Schweizer Kanton soll dabei den nötigen Druck auf Bundesbern ausüben, damit diese überfällige Änderung endlich vorgenommen wird.

Was spricht dafür?

1. Demokratiedefizit bei Notrecht kompensieren: Dass die Schweiz – im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern – keine Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber nationalen Gesetzen kennt, wird in erster Linie damit begründet, dass diese eine direkte und nicht nur eine parlamentarische Demokratie kennt. Die Gesamtheit der StimmbürgerInnen kann durch das Referendum – jedenfalls im statistischen Regelfall – Machtmissbrauch gut genug verhindern, sodass man keiner kleinen Gruppe von RichterInnen (zusätzliche) Macht geben muss, das Parlament zu korrigieren. Notverordnungen des Bundesrats wie auch der Bundesversammlung zeichnen sich hingegen gerade dadurch aus, dass gegen diese kein Referendum offensteht. Das Argument, das Volk könne ja das Referendum ergreifen, zielt damit ins Leere. In Notrechtszeiten hat die Regierung übermässig viel Macht, weil sie ohne Zustimmung des Parlaments weitreichende Entscheide treffen kann. Dieses Defizit ist sinnvollerweise durch einen Ausbau gerichtlicher Überprüfungsmöglichkeiten zu kompensieren.

Konkret: Während gewöhnlich das Parlament als Legislative die Oberaufsicht über den Bundesrat ausübt (Art. 169 BV), ist in Notrechtszeiten die Judikative zu stärken, um den Machtausbau der Exekutive zu überwachen.

 

2. Individualrechtsschutz stärken: Schon heute können kantonale Erlasse direkt, d.h. noch ohne konkreten Anwendungsfall, mittels sog. abstrakter Normenkontrolle vor Bundesgericht – und allenfalls auch kantonalen Gerichten – angefochten werden. Dies wird primär damit begründet, dass es BürgerInnen nicht zumutbar ist, einen konkreten Anwendungsfall abzuwarten, wenn sich ein Kanton bewusst um bundesrechtliche Vorgaben foutiert (Grundrechte, Besteuerungsgrundsätze, etc). Vielmehr besteht ein öffentliches Interesse daran, den Vorrang von Bundesrecht durchzusetzen. Bei nationalem Recht muss man jedoch zunächst einen konkreten Anwendungsfall abwarten, um im Einzelfall eine Verordnungsbestimmung auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, während bezüglich Bundesgesetzen ohnehin keine Verfassungsgerichtsbarkeit besteht (Art. 190 BV). Notrecht weist indessen die Besonderheit auf, dass es von heute auf morgen unmittelbar in Kraft tritt und nicht – wie normalerweise – auf Anfang oder Mitte eines Jahres und mit einer gewissen Vorlaufzeit. Dies ruft folglich nach einem zeitnahen Rechtsschutz, welcher nur erreicht werden kann, wenn Notverordnungen direkt vor Gericht angefochten werden können.

BürgerInnen ist es nämlich nicht zumutbar, einen konkreten Anwendungsfall abzuwarten und dann z.B. mit zwei Jahren Verspätung Recht zu erhalten. Dies umso mehr, als man dafür oft auch ein Strafverfahren wegen Missachtung von Notrecht auf sich nehmen müsste.

 

3. Präventivwirkung zum Schutz vor staatlichem Machtmissbrauch: (Berufs-)PolitikerInnen, insbesondere solche in Regierungspositionen, weisen oft die Charaktereigenschaft auf, dass sie nicht gerne verlieren oder Fehler öffentlich zugeben. Weiss also der Bundesrat, dass sein Notrecht innert ca. drei Monaten nach Erlass gerichtlich überprüft und allenfalls auch gekippt werden kann, wird er sich eher davor hüten, Entscheide zu treffen, von welchen zu erwarten ist, dass sie mit geltendem Recht nicht vereinbar sind. Nichts anderes gilt auch für das Bundesparlament, auch wenn dieses bislang kaum Notverordnungen, sondern primär dringliche Bundesgesetze erlassen hat.

Somit hat die zeitnahe und effiziente gerichtliche Kontrolle von Notrecht auch eine Präventivwirkung, da sich die Regierung dann zwei Mal überlegt, ihre Kompetenzen zu überschreiten.

 

4. Keine generelle Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit: Wie bereits ausgeführt, kennt die Schweiz explizit keine Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber nationalen Gesetzen. An jener Regelung würde auch die Annahme der Notrechtsinitiative nichts ändern. Jenes politisch hochstrittige Thema ist nämlich bewusst nicht Gegenstand der Initiative, sondern geht es einzig darum, angesichts der zunehmenden Lust des Bundesrats an Notrecht (Covid, Ukraine, Energie, etc) das aktuell offenkundige Rechtsschutzdefizit gegenüber nationalen Notverordnungen oder -Verfügungen zu beheben, ist doch effizienter Rechtsschutz bei über Nacht in Kraft tretendem Notrecht in einem Rechtsstaat zentral.

Diese Fokussierung sowie der Umstand, dass die Initiative nichts an Art. 190 BV ändern will, zeigen denn auch, wie selbstverständlich das Anliegen eigentlich ist.

 

5. Standesinitiative geeignet: Oft wird behauptet, dass Standesinitiativen ein relativ stumpfes Schwert seien, zumal sie rechtlich nicht mehr Gewicht haben als der Vorstoss eines einzelnen Bundesparlamentsmitglieds. Tatsächlich trifft dies auch in vielen Fällen zu. Vorliegend besteht jedoch die Besonderheit, dass die Forderung der Notrechtsinitiative in sehr ähnlicher Form bereits im Mai 2020 von Balthasar Glättli/Grüne im Nationalrat als Parlamentarische Initiative (PI 20.430) eingereicht wurde: 20.430 | Abstrakte Normenkontrolle von Notverordnungen | Geschäft | Das Schweizer Parlament Sodann stimmte die nationalrätliche Kommission dem Vorstoss zu und ist es nur die ständerätliche Kommission, die das Anliegen ablehnt. Angesichts dessen, dass eine der beiden Kammern der Bundesversammlung ohnehin hinter unserem Anliegen steht, kann eine Standesinitiative für einmal sehr wertvoll sein.

So lässt sich nämlich aus dem grössten Schweizer Kanton der nötige Druck auf Bundesbern ausüben, den Rechtsschutz gegenüber Notrecht endlich auszubauen.

Juristische Einzelfragen

Für weitere Infos sei auf die rechtlichen Detailerläuterungen zum Initiativtext verwiesen:

[3-seitiges PDF] Darin werden insbesondere auch prozessuale Aspekte beleuchtet, indem sowohl die aktuelle Rechtslage als auch die Tragweite der Notrechtsinitiative in rechtsetzungstechnischer Hinsicht näher skizziert werden.

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